Die kleine Eiche
Auf einem Hügel in der Ferne stand eine alte Eiche. Die Eiche war schon sehr alt, mit dicker Rinde, tiefen Wurzeln und einer riesigen Krone. Seit Jahrhunderten stand die Eiche dort auf ihrem Hügel und thronte über dem Tal.
Doch in der Erde unter der Eiche geschah etwas. Etwas regte sich und etwas bewegte sich.
Eine kleine Eichel hatte ihren Weg in die Erde auf dem Hügel gefunden. Tief in der Erde hatte sie geruht, doch nun brach ihre Zeit an.
Aus der Eichel begann, ein Sprössling zu wachsen. Zuerst so klein, dass man ihn kaum sehen konnte. Doch der Sprössling wuchs und wuchs und mit jedem Tag streckte und reckte er sich weiter nach oben. So weit, bis er endlich die Erde durchstieß und zum ersten Mal die Sonne spürte. Zum ersten Mal in ihrem Leben spürte die Eiche die Wärme und den Wind.
Die ganze Anstrengung des Wachsens hatte sich gelohnt. Denn die kleine Eiche liebte die frische Luft. Und sie hatte nicht vor, mit dem Wachsen aufzuhören. Die kleine Eiche wollte riesig werden.
So stand die Eiche auf ihrem Hügel und sie genoss die Wärme des Frühlings und des Sommers. Sie wuchs und wuchs und wuchs. Die kleine Eiche bekam mehr Blätter, ihr Stamm wurde allmählich dicker und ihre Wurzeln reichten immer tiefer in die Erde.
Doch dann geschah etwas: Plötzlich fiel ein Blatt aus ihrer Krone. Langsam sank es zu Boden und blieb im feuchten Gras liegen.
Die kleine Eiche aber kümmerte das nicht. Sie hatte genügend Blätter und könne jederzeit neue wachsen lassen.
Doch am nächsten Tag fiel erneut ein Blatt aus ihrer Krone. Da begann die kleine Eiche, sich zu fürchten. Sie wollte doch wachsen!
Zum ersten Mal wandte sich die kleine Eiche um und sah die uralte Eiche vor sich stehen.
Schüchtern und mit leiser Stimme fragte die kleine Eiche: »Du bist so alt und bist so hoch gewachsen. Kannst du mir sagen, warum ich meine Blätter verliere?«
Der uralte Baum antwortete mit tiefer und langsamer Stimme: »Der Herbst kommt. Jetzt ist es an der Zeit, zu ruhen und zu entspannen. Damit wir im Winter in einen tiefen Schlaf versinken können.«
»Schlaf?«, fragte die kleine Eiche.
»Mhm«, antwortete der alte Baum. »Du musst schlafen. Alles muss ruhen und alles muss schlafen, denn nur wer schläft, kann auch wachsen.«
Das konnte die kleine Eiche nicht glauben. Das wollte sie nicht glauben. Sie würde wachsen, den Herbst und den Winter hindurch, mehr noch als sie es im Sommer getan hatte.
Doch es wurde kalt und kälter und die Sonne wärmte nicht mehr, wie sie es im Sommer getan hatte. Und die kleine Eiche wurde müde.
Die kleine Eiche schloss ihre Augen. Ihre Atmung wurde langsam und still. Sie spürte jeden einzelnen Atemzug und fühlte, wie der Schlaf sich langsam über sie legte.
Da verlor die kleine Eiche ihr letztes Blatt. Langsam schwebte es zu Boden und blieb vor der Eiche liegen. Die kleine Eiche bemerkte es nicht mehr, lange schon schlief sie.
Denn nur was schläft, kann wachsen.